Doppelte Wesentlichkeit – Was ist das?
Die doppelte Wesentlichkeit ist eines der wichtigsten Konzepte der modernen Nachhaltigkeitsberichterstattung. Durch die Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD) und die European Sustainability Reporting Standards (ESRS) ist sie heute nicht mehr optional, sondern ein zentraler Bestandteil der gesetzlichen Anforderungen – und damit ein Thema, das Unternehmen strategisch wie operativ ernst nehmen müssen.
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Gleichzeitig bleibt das Konzept für viele zunächst abstrakt. Es verbindet zwei Perspektiven: die Frage, wie sich externe Nachhaltigkeitsentwicklungen auf das Unternehmen auswirken (Outside-in) und die Frage, welche Auswirkungen das Unternehmen selbst auf Umwelt, Gesellschaft und Menschenrechte hat (Inside-out). Erst die Kombination beider Sichtweisen ergibt das vollständige Bild – und entscheidet darüber, welche Themen im CSRD-Bericht verpflichtend offengelegt werden müssen.
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Wer die doppelte Wesentlichkeit richtig einordnet, profitiert: Unternehmen erkennen Risiken früher, nutzen Chancen besser, erfüllen gesetzliche Vorgaben effizienter und legen zugleich offener dar, wo sie Verantwortung tragen. Vor allem hilft das Prinzip dabei, die Vielzahl an ESG-Themen strukturiert zu priorisieren und zu entscheiden, was tatsächlich wesentlich ist – und was nicht.
Kurz erklärt | Doppelte Wesentlichkeit in 60 Sekunden
Die doppelte Wesentlichkeit bewertet Nachhaltigkeit aus zwei Blickwinkeln: Die Outside-in-Perspektive untersucht, wie externe Nachhaltigkeitsentwicklungen – von Klimarisiken über Regulierung bis zu gesellschaftlichen Trends – strategische, operative und potenziell finanzielle Auswirkungen auf das Unternehmen haben.
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Die Inside-out-Perspektive zeigt, welche ökologischen und sozialen Auswirkungen das Unternehmen selbst entlang der Wertschöpfungskette verursacht. Das Prinzip ist Kern von CSRD und ESRS und legt fest, welche ESG-Themen verpflichtend berichtet werden müssen.
Was bedeutet doppelte Wesentlichkeit im Zusammenhang mit ESG?
Im ESG-Kontext definiert Wesentlichkeit grundsätzlich, welche Themen für Unternehmen oder Stakeholder relevant sind. Die doppelte Wesentlichkeit erweitert diesen bekannten Ansatz, indem sie zwei Perspektiven gleichwertig in den Fokus stellt: Einerseits werden externe Nachhaltigkeitsentwicklungen betrachtet, die das Unternehmen betreffen. Andererseits wird untersucht, welche Umwelteinflüsse und sozialen Auswirkungen das Unternehmen selbst erzeugt.
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Damit entsteht ein umfassender Blick, der sowohl die wirtschaftliche Realität als auch die gesellschaftliche Verantwortung abbildet. Die ESRS sind hier sehr strikt: Unternehmen müssen beide Perspektiven systematisch prüfen, dokumentieren und extern prüfbar machen. Das verhindert selektive Berichterstattung und schützt vor unfairen wirtschaftlichen Praktiken, die entstehen können, wenn Unternehmen Risiken oder Impacts bewusst ausblenden.
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Die doppelte Wesentlichkeit ist deshalb weit mehr als eine regulatorische Pflicht – sie ist die Grundlage dafür, dass Nachhaltigkeitsberichterstattung glaubwürdig, vergleichbar und wirksam wird.
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Ein Thema ist dann wesentlich und muss somit im Nachhaltigkeitsbericht genannt werden, wenn es entweder für den Geschäftserfolg Risiken oder Chancen mit sich bringt oder die Auswirkungen des Unternehmens auf Umwelt und Menschen (wie Mitarbeiter oder Gemeinschaften) bedeutend sind.
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Es genügt also, wenn das Thema nur aus einer dieser beiden Perspektiven (finanziell oder auswirkungsorientiert) als wichtig eingestuft wird, damit es berichtspflichtig ist.
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Hinweis: Im Rahmen des Omnibus-Verfahrens werden seit Februar 2025 umfassende Änderungen an CSRD und ESRS diskutiert. Dazu gehören auch Vereinfachungen bei der doppelten Wesentlichkeitsanalyse, die die Anwendung der ESRS in der Praxis flexibler und weniger strikt machen könnten. Den aktuellen Stand zu den geplanten Anpassungen findet ihr weiter unten im Artikel.
Outside-in Perspektive (Financial Materiality)
Die Outside-in-Perspektive untersucht, wie externe Aspekte auf Euer Unternehmen und vor allem dessen finanzielle Geschäftsergebnis wirken. Damit sind nicht nur finanzielle Aspekte gemeint, sondern alle externen Entwicklungen, die für Euer Unternehmen relevant werden können.
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Das umfasst beispielsweise die Erwartungen anderer Marktteilnehmer:innen, Investor:innen sowie Stake- und Shareholder, die politischen und regulatorischen Rahmenbedingungen, in denen sich ein Unternehmen bewegt (etwa neue Regulierungen, die Verfügbarkeit von Rohstoffen oder Umweltrisiken), sowie gesellschaftliche Entwicklungen wie demografischer Wandel, Vielfalt, Migration oder Gleichstellung.
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Sie umfasst:
- strategische Auswirkungen (z. B. Gefährdung des Geschäftsmodells)
- operative Auswirkungen (z. B. Störungen in Lieferketten)
- regulatorische Auswirkungen (z. B. neue Berichtspflichten oder CO₂-Regime)
- potenzielle finanzielle Auswirkungen (z. B. Kosten, Wertverluste, Investitionsbedarf)
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Financial Materiality ist das Ergebnis dieser Analyse – nicht die Analyse selbst. Erst wenn ein Thema strategisch, operativ oder regulatorisch relevant ist, wird geprüft, ob daraus wesentliche finanzielle Effekte entstehen.
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Diese Perspektive macht sichtbar, wie eng Nachhaltigkeit heute mit Risikomanagement, Performance und langfristiger Wettbewerbsfähigkeit verbunden ist.
Inside-out Perspektive (Impact Materiality)
Die Inside-out-Perspektive, auch Impact Wesentlichkeit genannt, bewertet die Auswirkungen, die Euer Unternehmen selbst verursacht – positiv wie negativ. Sie umfasst ökologische, soziale und menschenrechtliche Impacts entlang der gesamten Wertschöpfungskette: vom Rohstoffabbau über Produktion, Transport und Nutzung bis hin zum Lebensende eines Produkts.
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Dazu zählen Emissionen, Ressourcenverbrauch, Biodiversitätseinflüsse, Arbeitsbedingungen in Lieferketten, Auswirkungen auf lokale Gemeinschaften, Gesundheit, Sicherheit und vieles mehr.
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Das europäische Verständnis von Nachhaltigkeit betont diese Perspektive besonders stark. Sie basiert auf Rahmenwerken wie der Global Reporting Initiative (GRI) und den UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte. Wichtiger Unterschied zur Outside-in-Perspektive: Auch Themen ohne finanzielle Folgen können wesentlich sein – sobald ihre Auswirkungen gesellschaftlich hoch relevant sind.
Praxiswerkzeug: Die Grubengold Impact Map
Für den Einstieg in die Inside-out-Perspektive nutzen wir bei Grubengold die eigene Impact Map. Sie hilft Unternehmen dabei, ihre tatsächlichen und potenziellen Auswirkungen entlang der gesamten Wertschöpfungskette strukturiert zu erfassen – von Rohstoffen über Produktion bis zur Nutzung und Entsorgung.
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Die Map ist einfach handhabbar, iterativ nutzbar und bildet eine robuste Grundlage für die Impact-Analyse im Rahmen der ESRS.
Wie führe ich eine doppelte Wesentlichkeitsanalyse durch?
Die doppelte Wesentlichkeitsanalyse ist zentraler Bestandteil der verpflichtenden Nachhaltigkeitserstattung unter der CSRD. Damit ist sie nicht nur die Basis für die Nachhaltigkeitsstrategie Eures Unternehmens, sondern entscheidet auch darüber, über welche Standards Euer Unternehmen berichten muss. Der von der EU konzipierte Prozess für die doppelte Wesentlichkeitsanalyse ist sehr komplex und es stehen wenig Hilfsmittel zur Verfügung.
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Damit der komplexe EU-Prozess zur doppelten Wesentlichkeitsanalyse in der Praxis handhabbar wird, haben wir ihn bei Grubengold in fünf klar strukturierte Schritte übersetzt. Der Ablauf ist so gestaltet, dass er möglichst schlank bleibt, gleichzeitig aber alle Anforderungen der ESRS erfüllt.
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1. Erste Stakeholder-Befragung (externe Einschätzung)
Zu Beginn werden externe Stakeholder minimalinvasiv eingebunden. Eine kurze, ESRS-basierte Umfrage liefert ein erstes Bild, welche ESG-Themen von außen als relevant eingestuft werden – ohne die Gruppen zu überfordern.
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2. Inside-out-Analyse entlang der Wertschöpfungskette
In einem Workshop wird mithilfe der Grubengold Impact Map erarbeitet, welche ökologischen, sozialen und menschenrechtlichen Auswirkungen Eures Unternehmen entlang seiner Wertschöpfungskette verursacht. Das bildet die vollständige Impact-Perspektive ab. Damit verhindert die CSRD, dass relevante Themen herausgefiltert werden, nur weil sie für das Unternehmen kurzfristig nicht finanziell ins Gewicht fallen.
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3. Outside-in-Analyse zu Risiken & Chancen
Im nächsten Schritt wird analysiert, wie externe Entwicklungen – etwa Klima, Markt, Politik oder Technologie – Euer Unternehmen beeinflussen. Grundlage ist eine strukturierte Risiko- und Chancenanalyse gemeinsam mit internen Expert:innen aus relevanten Unternehmensbereichen.
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4. Shortlist der Themen
Die identifizierten Auswirkungen, Risiken und Chancen werden anschließend zu übergeordneten Themenclustern verdichtet. Das Ergebnis ist eine fokussierte Shortlist, die als Basis für die weitere Bewertung dient – kompakt, prüffähig und strategisch nutzbar.
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5. Bewertung & Ableitung der wesentlichen Themen
Stakeholder bewerten die Themen der Shortlist entlang der CSRD-Vorgaben. Auf dieser Grundlage werden die wesentlichen Themen abgeleitet, priorisiert und direkt in die Wesentlichkeitsmatrix sowie die Nachhaltigkeitsberichterstattung überführt.
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Dieses Vorgehen stellt sicher, dass die Analyse ESRS-konform, umfassend dokumentiert und zugleich effizient durchführbar ist – und dass alle Perspektiven der doppelten Wesentlichkeit berücksichtigt werden.
Was ist die Wesentlichkeitsmatrix?
Die Wesentlichkeitsmatrix fasst die Ergebnisse der Analyse visuell zusammen. Sie zeigt entlang zweier Achsen, welche Themen strategisch und finanziell relevant sind und welche Impacts ein Unternehmen verursacht.
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Themen im „oberen rechten Bereich“ der Matrix gelten als besonders wesentlich und erfordern detaillierte Offenlegungen im Bericht. Die Matrix schafft damit eine hohe Transparenz – intern zur Steuerung, extern für Stakeholder und Prüfer:innen.
Wie oft musst Du auf doppelte Wesentlichkeit prüfen?
Die ESRS verlangen eine jährliche Überprüfung. Sobald sich jedoch wesentliche Veränderungen ergeben – etwa neue Märkte, neue Standorte, neue Produkte, Lieferkettenveränderungen oder relevante Ereignisse – muss die Analyse aktualisiert werden.
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In der Praxis etablieren viele Unternehmen daher einen kontinuierlichen Prozess, der die doppelte Wesentlichkeit eng mit Risikomanagement und Strategie verzahnt.
Beispiele für Doppelte Wesentlichkeit in verschiedenen Branchen
Doppelte Wesentlichkeit zeigt sich in jeder Branche anders – abhängig vom Geschäftsmodell, den Risiken und der Art der eigenen Auswirkungen. Ein präziser Blick in einzelne Sektoren verdeutlicht, wie unterschiedlich die beiden Perspektiven ausfallen können und wie Euer Unternehmen daraus strategische Schlüsse ziehen kann.
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Beispiel 1: Automobilbranche
In der Automobilindustrie treffen technologische, ökologische und soziale Faktoren besonders stark aufeinander.
- Inside-out: Produktion, Lieferketten, Rohstoffabbau, CO₂-Emissionen und Arbeitsbedingungen haben weitreichende ökologische und gesellschaftliche Auswirkungen.
- Outside-in: Regulatorische Vorgaben (z. B. CO₂-Flottengrenzwerte), technologischer Wandel (E-Mobilität, Software), verändertes Mobilitätsverhalten und geopolitische Risiken beeinflussen die finanzielle Entwicklung direkt.
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Unternehmen berücksichtigen deshalb beides: die eigenen Impacts entlang der Wertschöpfungskette und die Markt- sowie Regulierungsrisiken, die über Erfolg und Wettbewerbsfähigkeit entscheiden.
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Beispiel 2: Finanzbranche
Banken und Versicherungen bewegen sich in einem Umfeld, in dem Klimarisiken, Kreditvergabestandards oder Investitionsentscheidungen sowohl finanzielle als auch gesellschaftliche Dimensionen haben.
- Inside-out: Kapitalströme beeinflussen Emissionen, Transformationspfade und soziale Strukturen.
- Outside-in: Klimarisiken, Marktvolatilität oder regulatorische Vorgaben wirken sich unmittelbar auf Risiken und Renditen aus.
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Beispiel 3: Bauwesen
Im Gebäudesektor treffen Ressourcenverbrauch, Materialwahl, Energieeffizienz und Flächenverbrauch auf schwankende Materialpreise und regulatorische Anforderungen.
- Inside-out: hoher Einfluss auf Biodiversität, Bodenversiegelung und Energiebedarf.
- Outside-in: steigende Energiepreise, strengere Bau- und Effizienzstandards, Lieferkettenrisiken.
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Beispiel 4: Landwirtschaft
Die Branche bewegt sich zwischen extremwetterbedingten Risiken und besonders hohen Impact-Themen.
- Inside-out: Biodiversität, Bodenqualität, Wasserverbrauch, Einsatz von Dünger und Pestiziden.
- Outside-in: Klimawandel, Ernteausfälle, Wasserknappheit und Marktpreise.
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Bwispiel 5: Energiewirtschaft
Hier sind finanzielle Risiken und ökologische Auswirkungen traditionell eng miteinander verknüpft.
- Inside-out: Emissionen, Landnutzung, Eingriffe in Ökosysteme.
- Outside-in: Energiepreise, politische Weichenstellungen, Infrastrukturrisiken.
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Beispiel 6: Mode, IT, Lebensmittelproduktion
Diese Branchen zeigen sehr unterschiedliche, aber jeweils deutliche doppelte Wesentlichkeiten:
- Inside-out: soziale Risiken in globalen Lieferketten, digitale Verantwortung, Verpackungsabfälle, Arbeitsbedingungen.
- Outside-in: technologische Innovation, Marktveränderungen, Regulierungen, Rohstoffverfügbarkeit.
Wie sieht es in Sachen doppelter Wesentlichkeit nach Omnibus aus?
Das Grundprinzip der doppelten Wesentlichkeit (Auswirkungs- und Finanzielle Wesentlichkeit) sollen zwar bestehen bleiben, jedoch wird die Wesentlichkeitsanalyse durch Klarstellungen in ESRS 1 flexibler. Unternehmen können nun einen pragmatischen Top-down-Ansatz wählen, der Themen anhand von Geschäftsmodell oder Strategie bewertet und eine Detailprüfung nur bei unklarer Materialität erfordert.
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Zusätzlich sollen die Berichtsanforderungen entschlackt werden: Die getrennte Betrachtung aller Zeithorizonte und Schweregrad-Dimensionen soll nicht mehr zwingend sein, es sei denn, sie ist für die Wesentlichkeitseinschätzung erforderlich. Zudem sollen die bisher verpflichtende umfassende Themenliste in eine unverbindliche Orientierungshilfe umgewandelt werden.
Wie Grubengold bei der doppelten Wesentlichkeitsanalyse hilft
Grubengold begleitet Unternehmen durch den gesamten Prozess – von der Vorbereitung über die Stakeholder-Einbindung bis zur vollständigen Analyse, Visualisierung und Integration in die Nachhaltigkeitsberichterstattung. Wir entwickeln Wesentlichkeitsmatrizen, moderieren Workshops, prüfen Prozesse, unterstützen bei der ESRS-konformen Dokumentation und machen die Ergebnisse prüffähig.
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Auch wenn Euer Unternehmen nicht unter die CSRD fallt, ist es strategisch sinnvoll, Eure wesentlichen Themen zu kennen. Eine verkürzte Wesentlichkeitsanalyse hilft, die wichtigsten Handlungsfelder schnell zu erkennen. Sie ist die Basis, um im Rahmen der VSME-Berichterstattung die relevanten Aspekte oder das passende Modul auszuwählen.
Unser Experte
David Hannes
David unterstützt Unternehmen u. a. bei den Themen CO₂-Bilanzen und nachhaltige Geschäftsmodell-Transformation. Mit seinem naturwissenschaftlichen Hintergrund als Medizinphysiker – inklusive eines Auslandssemesters am MIT – bringt er analytische Tiefe und systemisches Denken in die Entwicklung von Klimastrategien ein. Bei Grubengold berät er Unternehmen dabei, Emissionen entlang der Wertschöpfungskette zu bilanzieren, zu verstehen und wirkungsvoll zu reduzieren.
